Interview mit dem Präsidenten des Kieler Weltwirtschaftsinstituts
"Wir müssen den Schwächsten in der Gesellschaft bessere Angebote machen"
Der Ökonom Moritz Schularick ist Präsident des bedeutenden Kieler Weltwirtschaftsinstituts und forscht auch zu ökonomischer Ungleichheit. Im Exklusivinterview mit HEMPELS spricht er über eine gerechtere Verteilung von Reichtum und Vermögen, warum er eine Erbschaftssteuer für richtig hält und dass die Transformation des Klimawandels keine sozialen Schieflagen verursachen darf. Und darüber, was er von der Politik für die nächsten Jahre erwartet.

Ein Wintervormittag im Kieler Institut für Weltwirtschaft, für gewöhnlich bietet sich von hier ein offener Blick auf die Förde, an diesem Morgen sind nur Nebelhörner vorbeifahrender Schiffe zu vernehmen. Auf dem Konferenztisch steht neben einem Keksteller und Mineralwasser auch Kaffee aus fair gehandelten Bohnen. "Bedienen Sie sich gerne", sagt Institutspräsident Schularick zur Begrüßung. Na, dann mal los mit den Fragen.

Herr Professor Schularick, Deutschland ist ein reiches Land. Wie ließe sich dieser Reichtum gerechter verteilen?
Das ist die große Frage. Wenn – und das kann ich gut nachvollziehen – diese Parallelität von enormem Reichtum und sozialer Prekarität für Sie unerträglich ist, dann muss man in der Tat sagen, dass wir den Schwächsten in dieser Gesellschaft bessere Angebote machen müssen, damit sie wieder in die Gesellschaft integriert und voll zu ihr beitragen können.
Welche Angebote sollten das sein?
Da geht es um grundlegende Dinge wie Gesundheitsversorgung und jetzt im Winter natürlich die Versorgung mit Wohnraum. Aber auch zum Beispiel um Schulungen. Wir haben praktisch Vollbeschäftigung, wer arbeiten will und kann, kriegt auch einen Job. Aber manchmal gibt es ganz praktische Hindernisse: Bankkonten oder Adressen zum Beispiel, die Probleme machen. Sie sprechen jetzt aber mit dem Präsidenten eines Weltwirtschaftsinstituts und nicht mit einem Sozialpolitiker. Zu den konkreten Hürden und wie man sie im Detail am besten beseitigt, können andere mehr sagen.

Wenn wir nicht auf die Weltwirtschaft schauen, sondern auf die deutsche Wirtschaft, dann kann man feststellen, dass wir eine halbwegs homogene Einkommensverteilung haben. Was nicht funktioniert, ist die Vermögensverteilung. Die ist im Ungleichgewicht, auch im europäischen Vergleich. Die reiche Hälfte der deutschen Bevölkerung besitzt 98,6 Prozent des Gesamtvermögens. Ist das nicht schon die Spaltung der Gesellschaft? Welche Möglichkeiten der Abhilfe sehen Sie?
Ich bin selber Co-Autor einer Studie über die langfristige Vermögensverteilung in Deutschland. Und sie zeigt zum ersten Mal, in welchem Maße wir da auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern größere Ungleichheiten haben. Vermögensungleichheit ist nicht ein Problem an sich, sondern sie ist es dann, wenn es Nebeneffekte gibt, die wir nicht wollen. Wenn wir in die USA schauen, dann wird deutlich, wie dieser enorme Reichtum, den dort einzelne Personen haben, politisch eingesetzt wird und damit demokratische Prozesse untergräbt. Das ist problematisch, denn dann gehen wir in Richtung eines Oligarchentums wie in Russland. Eine Verquickung von politischer Einflussnahme und finanziellem Vermögen ist für eine Demokratie problematisch.
Sie meinen die anstehenden die Präsidentschaftswahlen in den USA.
Ja. In Deutschland ist unser Wohlbefinden nicht unbedingt beeinträchtigt, weil es jemanden gibt, der wahnsinnig viel reicher ist. Das schafft keine Probleme, solange wir es schaffen – und das ist die Aufgabe des Steuersystems – , die öffentlichen Güter, die existenziell sind für unsere künftige Wirtschafts- und Sozialentwicklung, über Steuermittel bereitzustellen. Zum Beispiel für gute Schulen, für eine gute frühkindliche Erziehung. Es gibt allerdings viele Bereiche, wo wir nicht so gut sind, wie wir sein sollten. Gerade bei den Fragen von Kinderbetreuung, den Grundschulen, dem Bildungssystem. Wir hatten kürzlich den Pisa-Schock. Das sind öffentliche Güter, die der Staat bereitstellen muss. Zu deren Finanzierung müssen Wohlhabende mehr beitragen. Im Moment sehen wir allerdings vor allem deshalb bei vielen dieser öffentlichen Leistungen nicht gut aus, weil der deutsche Staat sich in den letzten Jahren selber nicht gut aufgestellt hat und nicht weil es an Umverteilung mangelt.

In unserem Bildungssystem sind die einen angewiesen auf das öffentliche Schulsystem, die anderen genießen die Vielfalt der Privatschulen, auf denen es relativ wenig Sozialhilfeempfänger gibt.
Ich finde das besorgniserregend. Es ist essentiell und ökonomisch sinnvoll, dass Kinder aus armen und reichen Familien gemeinsam zur Schule gehen und es keine soziale Segmentierung gibt. Wir schaffen es an vielen Orten nicht mehr, gute öffentliche Schulen zur Verfügung zu stellen. Nicht unbedingt, weil wir zu wenig Geld dafür ausgeben. Der Blick nach Skandinavien oder Estland zeigt uns, dass mit relativ ähnlichen Summen dort mehr erreicht wird. Wir müssen uns also auch an die eigene Nase fassen und uns fragen, was ist denn da los in unserem System.
Könnte ein Weg sein, dass man über eine Erbschaftssteuer nachdenkt?
Absolut. Dafür bin ich offen, das ist die gerechteste Steuer, bei der die meisten Ökonomen sagen, dass hier gerade in den letzten zehn bis 15 Jahren in Deutschland einiges schiefgelaufen ist.
Den Reichen dürfte das gefallen.
Ja, und das hat auch mit erfolgreicher Lobbyarbeit zu tun. Ich kann es individuell nachvollziehen, dass ein Gründer sein Unternehmen an die nächste Generation weitergeben möchte. Aber es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, dass die nächste Generation, die das Vermögen vererbt bekommt und nicht selbst erarbeitet hat, dafür auch einen guten Teil Erbschaftssteuer zahlen muss. Es gibt ja das Argument, dass diese Steuerlast die neue Generation überlasten würde. Das sind nur vorgeschobene Argumente, denn das kann man über viele Jahre strecken. Ich stimme Ihnen zu: Wir brauchen hier eine gerechtere Besteuerung. Übrigens, mehr Erbschaftssteuern wären eine tolle Möglichkeit, an anderer Stelle zu sagen, wir brauchen da weniger Steuern oder wir können mehr investieren.
Das wäre eine Umverteilung.
Das ist eine der Aufgaben des Steuersystems.

Ein anderer Knackpunkt, der gerade massiv durchschlägt, sind die Maßnahmen zum Klimaschutz. Gerade für arme Menschen werden viele Alltagsausgaben für Lebensmittel oder Benzin teurer. Einen Reichen trifft das nicht wirklich, Menschen, die von Bürgergeld leben müssen, hingegen schon. Verbunden mit dem, was wir schon diskutiert haben: Besteht die Gefahr, dass das zu einer weiteren Teilung der Gesellschaft führt?
Ich denke, es ist erst mal durchaus plausibel, dass der Konsumkorb von einkommensschwächeren Haushalten mehr CO2 enthält – relativ gesehen, nicht absolut. Fraglos bewältigen wir die angesichts des Klimawandels notwendige Transformation nur dann erfolgreich, wenn das nicht große soziale Schieflagen verursacht. Das würde nur extremen Parteien noch mehr Stimmen bringen. Auf der anderen Seite halte ich es für legitim, auch Einkommensschwächeren oder Haushalten mit mittlerem Einkommen zu sagen: Auch ihr müsst einen gewissen Wandel in eurem Leben hinnehmen. Und wenn das bedeutet, dass es teurer wird, mit dem Auto statt mit dem deutlich billigeren Zug zur Arbeit zu fahren. Ich denke, wir brauchen auch da Anreize, uns klimafreundlich zu verhalten.
Müsste ein Ausgleich der Belastungen durch den Staat erfolgen?
Dass den unteren Einkommensgruppen ein Ausgleich der CO2-Kosten zugute kommt, halte ich für eine sinnvolle Sache. Der absolute CO2-Abdruck steigt ja mit dem Einkommen.

Etliche Menschen sehen sich gesellschaftlich schon jetzt als abgehängt, besondere Ängste entstehen nun auch in der Mittelschicht. Sie befürchten, ebenfalls abzurutschen. Zum einen kann daraus ein Rechtsruck im Wahlverhalten resultieren. Es kann daraus aber auch ein Protest gegen die Politik insgesamt werden. Stimmen Sie dem zu?
Das ist unbestritten. Es gibt eine Krisenstimmung im Land, die Leute wissen nicht, wie das Land in zehn Jahren aussehen wird. Das liegt an einem großen Vakuum an politischer Führung. Und wir verstricken uns jetzt in Klein-klein-Debatten, statt Orientierung zu geben, wie es in fünf bis zehn Jahren aussehen soll. Es gibt da Parallelen zu den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, und die werden leider jeden Tag größer,
Es gibt in unserem Sozialsystem eine ganze Menge Hilfeleistungen. Die Wirkung des vielen Geldes scheint aber leider begrenzt zu sein. Die Armut zurückzudrängen, ist in den letzten 20 Jahren immer weniger gelungen. Der Armutsbericht 2022 des Paritätischen Gesamtverbands besagt, dass 16,9 Prozent der Gesamtbevölkerung – insgesamt gut 14 Millionen – arm sind und über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Sind die Instrumente noch angemessen oder müsste man andere entwickeln?
Wir haben einen großen Sozialstaat, die Sozialleistungen entsprachen 2022 rund 30 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Die Sozialausgaben an sich sind nicht das Problem, aber ich würde sehr viel dafür geben, wenn wir die großen Summen, die da bewegt werden, effizienter einsetzen könnten. Ich mache mal den Vergleich zur Bundeswehr: Die hat auch ein erhebliches Budget. Aber man Ende muss man sagen, wir sind nur bedingt verteidigungsfähig. Zu Ihrer Frage: Da ist in der Tat das Gefühl, dass das System immer weniger wirkmächtig ist.
Wie müsste man das ändern?
Wir müssen in vielen Bereichen über einen grundsätzlichen Neuanfang nachdenken. Krankenversicherung zum Beispiel. Diese Parallelität von privater und öffentlicher Krankenversicherung mit vielen verschiedenen Tarifen und ausgehandelten Fallpauschalen, Überweisungen – das ist alles nicht effizient. In anderen Ländern gibt es digitale Patientenakten, es werden nicht Untersuchungen doppelt gemacht, weil irgendwo das Papier verloren gegangen ist. Gerade im Medizinbereich gibt es sehr viel Effizienzpotential. Wir haben auch ein Problem bei den Renten und finanzieren aus laufenden Steuermitteln jetzt schon die Renten in ganz erheblichem Maße. Vielleicht können wir dieses Problem lösen, wenn wir geschickt Einwanderung in den Arbeitsmarkt steuern. Aber der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr, weil sich einige Generationen aus dem Kinderkriegen verabschiedet haben. Da müsste die Politik sich aber irgendwann trauen und den aktuellen Rentnern auch mal sagen: Ihr habt euren Teil des Vertrages nicht erfüllt, ihr könnt jetzt nicht erwarten, dass wir so weitermachen und ihr die gleichen Leistungen bekommt.
Die durchschnittliche monatliche Altersrente in Deutschland beträgt nach Abzug der Kranken- und Pflegeversicherung 1080 Euro. Die realen Renten sinken, immer mehr Rentner sind auf Aufstockung angewiesen. Wie kann man steigender Altersarmut entgegenwirken?
Als Rentnerin oder Rentner hat ein großer Teil meines Bedarfs mit Gesundheit und Pflege zu tun. Bei der Zahl, die Sie gerade genannt haben, muss man also fairerweise dazusagen, dass die größten Lebenskrisen mit Gesundheit und Pflege schon abgedeckt sind. 1080 Euro sind wirklich nicht viel, da stimme ich Ihnen zu. Aber wenn einem die existenziellen Risiken abgenommen sind, dann ist das ein schöner Anfang. Ist das auch ein luxuriöses Leben? Nein, natürlich nicht.

Welche Maßnahmen würden Sie der Politik empfehlen, um in den nächsten zehn Jahren eine gute wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Entwicklung zu gewährleisten?
Wir brauchen eine positive Vision, wie das Land aussehen soll. Dazu brauchen wir politische Führung. Wir brauchen eine Idee, wie es mit unserer industriellen Basis in Deutschland weitergehen soll. Wie wir den Klimawandel und diese Energietransformation gestalten, damit sie nachhaltig im sozial-ökologischen Sinn ist. Wir benötigen diese Konkretisierung einer Agenda 2030/35, dass wir ein Ziel haben, auf das wir losmarschieren. Zum Beispiel, dass wir die grüne Industrienation Nr. 1 in der Welt werden wollen. Wir brauchen etwas Konkretes, wo wir sagen, wir packen an und laufen alle in die gleiche Richtung. Da wollen wir hin, und wenn wir da ankommen, dann sind AfD und andere Schreckgespenster vergessen.

Interview von Peter Brandhorst und Holger Förster; erschienen (u a.) in: Straßenmagazin Hempels, Februar 2024


Weltwirtschaftsinstitut Kiel

Das "Kiel Institut für Weltwirtschaft" (IfW) ist eines der großen und bedeutenden Zentren weltwirtschaftlicher Forschung. Aufgabe ist, weltwirtschaftliche Herausforderungen frühzeitig zu erkennen und Lösungsansätze zu entwickeln. Das Institut mit seinen insgesamt über 100 wissenschaftlichen Mitarbeitenden berät deutsche, europäische und internationale Politik sowie Institutionen, Verbände und Unternehmen. Als eigenständiges Institut kooperiert das IfW mit der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und wird vom Land Schleswig-Holstein und vom Bund finanziert.

Prof. Moritz Schularick

Der 1975 geborene Moritz Schularick ist seit Juni 2023 Präsident des Kieler Weltwirtschaftsinstituts. Vor seiner Berufung an das IfW war der Volkswirt Professor für Makroökonomie an der Universität Bonn. Schularick hat mehrere Auszeichnungen erhalten, unter anderem ist er Preisträger des Leibniz-Preises 2022, Deutschlands wichtigstem und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vergebenen Forschungspreis. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit ökonomischer Ungleichheit und den Ursachen von Finanzkrisen.