Ein Wintervormittag im Kieler Institut für Weltwirtschaft,
für gewöhnlich bietet sich von hier ein offener Blick auf die
Förde, an diesem Morgen sind nur Nebelhörner vorbeifahrender
Schiffe zu vernehmen. Auf dem Konferenztisch steht neben einem Keksteller
und Mineralwasser auch Kaffee aus fair gehandelten Bohnen. "Bedienen
Sie sich gerne", sagt Institutspräsident Schularick zur Begrüßung.
Na, dann mal los mit den Fragen.
Herr Professor Schularick, Deutschland ist
ein reiches Land. Wie ließe sich dieser Reichtum gerechter verteilen?
Das ist die große Frage. Wenn – und das kann ich gut nachvollziehen
– diese Parallelität von enormem Reichtum und sozialer Prekarität
für Sie unerträglich ist, dann muss man in der Tat sagen, dass
wir den Schwächsten in dieser Gesellschaft bessere Angebote machen
müssen, damit sie wieder in die Gesellschaft integriert und voll
zu ihr beitragen können.
Welche Angebote sollten das sein?
Da geht es um grundlegende Dinge wie Gesundheitsversorgung und jetzt im
Winter natürlich die Versorgung mit Wohnraum. Aber auch zum Beispiel
um Schulungen. Wir haben praktisch Vollbeschäftigung, wer arbeiten
will und kann, kriegt auch einen Job. Aber manchmal gibt es ganz praktische
Hindernisse: Bankkonten oder Adressen zum Beispiel, die Probleme machen.
Sie sprechen jetzt aber mit dem Präsidenten eines Weltwirtschaftsinstituts
und nicht mit einem Sozialpolitiker. Zu den konkreten Hürden und
wie man sie im Detail am besten beseitigt, können andere mehr sagen.
Wenn wir nicht auf die Weltwirtschaft schauen,
sondern auf die deutsche Wirtschaft, dann kann man feststellen, dass wir
eine halbwegs homogene Einkommensverteilung haben. Was nicht funktioniert,
ist die Vermögensverteilung. Die ist im Ungleichgewicht, auch im
europäischen Vergleich. Die reiche Hälfte der deutschen Bevölkerung
besitzt 98,6 Prozent des Gesamtvermögens. Ist das nicht schon die
Spaltung der Gesellschaft? Welche Möglichkeiten der Abhilfe sehen
Sie?
Ich bin selber Co-Autor einer Studie über die langfristige Vermögensverteilung
in Deutschland. Und sie zeigt zum ersten Mal, in welchem Maße wir
da auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern größere
Ungleichheiten haben. Vermögensungleichheit ist nicht ein Problem
an sich, sondern sie ist es dann, wenn es Nebeneffekte gibt, die wir nicht
wollen. Wenn wir in die USA schauen, dann wird deutlich, wie dieser enorme
Reichtum, den dort einzelne Personen haben, politisch eingesetzt wird
und damit demokratische Prozesse untergräbt. Das ist problematisch,
denn dann gehen wir in Richtung eines Oligarchentums wie in Russland.
Eine Verquickung von politischer Einflussnahme und finanziellem Vermögen
ist für eine Demokratie problematisch.
Sie meinen die anstehenden die Präsidentschaftswahlen
in den USA.
Ja. In Deutschland ist unser Wohlbefinden nicht unbedingt beeinträchtigt,
weil es jemanden gibt, der wahnsinnig viel reicher ist. Das schafft keine
Probleme, solange wir es schaffen – und das ist die Aufgabe des
Steuersystems – , die öffentlichen Güter, die existenziell
sind für unsere künftige Wirtschafts- und Sozialentwicklung,
über Steuermittel bereitzustellen. Zum Beispiel für gute Schulen,
für eine gute frühkindliche Erziehung. Es gibt allerdings viele
Bereiche, wo wir nicht so gut sind, wie wir sein sollten. Gerade bei den
Fragen von Kinderbetreuung, den Grundschulen, dem Bildungssystem. Wir
hatten kürzlich den Pisa-Schock. Das sind öffentliche Güter,
die der Staat bereitstellen muss. Zu deren Finanzierung müssen Wohlhabende
mehr beitragen. Im Moment sehen wir allerdings vor allem deshalb bei vielen
dieser öffentlichen Leistungen nicht gut aus, weil der deutsche Staat
sich in den letzten Jahren selber nicht gut aufgestellt hat und nicht
weil es an Umverteilung mangelt.
In unserem Bildungssystem sind die einen angewiesen
auf das öffentliche Schulsystem, die anderen genießen die Vielfalt
der Privatschulen, auf denen es relativ wenig Sozialhilfeempfänger
gibt.
Ich finde das besorgniserregend. Es ist essentiell und ökonomisch
sinnvoll, dass Kinder aus armen und reichen Familien gemeinsam zur Schule
gehen und es keine soziale Segmentierung gibt. Wir schaffen es an vielen
Orten nicht mehr, gute öffentliche Schulen zur Verfügung zu
stellen. Nicht unbedingt, weil wir zu wenig Geld dafür ausgeben.
Der Blick nach Skandinavien oder Estland zeigt uns, dass mit relativ ähnlichen
Summen dort mehr erreicht wird. Wir müssen uns also auch an die eigene
Nase fassen und uns fragen, was ist denn da los in unserem System.
Könnte ein Weg sein, dass man über
eine Erbschaftssteuer nachdenkt?
Absolut. Dafür bin ich offen, das ist die gerechteste Steuer, bei
der die meisten Ökonomen sagen, dass hier gerade in den letzten zehn
bis 15 Jahren in Deutschland einiges schiefgelaufen ist.
Den Reichen dürfte das gefallen.
Ja, und das hat auch mit erfolgreicher Lobbyarbeit zu tun. Ich kann es
individuell nachvollziehen, dass ein Gründer sein Unternehmen an
die nächste Generation weitergeben möchte. Aber es ist überhaupt
nichts dagegen einzuwenden, dass die nächste Generation, die das
Vermögen vererbt bekommt und nicht selbst erarbeitet hat, dafür
auch einen guten Teil Erbschaftssteuer zahlen muss. Es gibt ja das Argument,
dass diese Steuerlast die neue Generation überlasten würde.
Das sind nur vorgeschobene Argumente, denn das kann man über viele
Jahre strecken. Ich stimme Ihnen zu: Wir brauchen hier eine gerechtere
Besteuerung. Übrigens, mehr Erbschaftssteuern wären eine tolle
Möglichkeit, an anderer Stelle zu sagen, wir brauchen da weniger
Steuern oder wir können mehr investieren.
Das wäre eine Umverteilung.
Das ist eine der Aufgaben des Steuersystems.
Ein anderer Knackpunkt, der gerade massiv durchschlägt,
sind die Maßnahmen zum Klimaschutz. Gerade für arme Menschen
werden viele Alltagsausgaben für Lebensmittel oder Benzin teurer.
Einen Reichen trifft das nicht wirklich, Menschen, die von Bürgergeld
leben müssen, hingegen schon. Verbunden mit dem, was wir schon diskutiert
haben: Besteht die Gefahr, dass das zu einer weiteren Teilung der Gesellschaft
führt?
Ich denke, es ist erst mal durchaus plausibel, dass der Konsumkorb von
einkommensschwächeren Haushalten mehr CO2 enthält – relativ
gesehen, nicht absolut. Fraglos bewältigen wir die angesichts des
Klimawandels notwendige Transformation nur dann erfolgreich, wenn das
nicht große soziale Schieflagen verursacht. Das würde nur extremen
Parteien noch mehr Stimmen bringen. Auf der anderen Seite halte ich es
für legitim, auch Einkommensschwächeren oder Haushalten mit
mittlerem Einkommen zu sagen: Auch ihr müsst einen gewissen Wandel
in eurem Leben hinnehmen. Und wenn das bedeutet, dass es teurer wird,
mit dem Auto statt mit dem deutlich billigeren Zug zur Arbeit zu fahren.
Ich denke, wir brauchen auch da Anreize, uns klimafreundlich zu verhalten.
Müsste ein Ausgleich der Belastungen durch
den Staat erfolgen?
Dass den unteren Einkommensgruppen ein Ausgleich der CO2-Kosten zugute
kommt, halte ich für eine sinnvolle Sache. Der absolute CO2-Abdruck
steigt ja mit dem Einkommen.
Etliche Menschen sehen sich gesellschaftlich
schon jetzt als abgehängt, besondere Ängste entstehen nun auch
in der Mittelschicht. Sie befürchten, ebenfalls abzurutschen. Zum
einen kann daraus ein Rechtsruck im Wahlverhalten resultieren. Es kann
daraus aber auch ein Protest gegen die Politik insgesamt werden. Stimmen
Sie dem zu?
Das ist unbestritten. Es gibt eine Krisenstimmung im Land, die Leute wissen
nicht, wie das Land in zehn Jahren aussehen wird. Das liegt an einem großen
Vakuum an politischer Führung. Und wir verstricken uns jetzt in Klein-klein-Debatten,
statt Orientierung zu geben, wie es in fünf bis zehn Jahren aussehen
soll. Es gibt da Parallelen zu den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen
Jahrhunderts, und die werden leider jeden Tag größer,
Es gibt in unserem Sozialsystem eine ganze Menge
Hilfeleistungen. Die Wirkung des vielen Geldes scheint aber leider begrenzt
zu sein. Die Armut zurückzudrängen, ist in den letzten 20 Jahren
immer weniger gelungen. Der Armutsbericht 2022 des Paritätischen
Gesamtverbands besagt, dass 16,9 Prozent der Gesamtbevölkerung –
insgesamt gut 14 Millionen – arm sind und über weniger als
60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Sind die Instrumente
noch angemessen oder müsste man andere entwickeln?
Wir haben einen großen Sozialstaat, die Sozialleistungen entsprachen
2022 rund 30 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Die Sozialausgaben
an sich sind nicht das Problem, aber ich würde sehr viel dafür
geben, wenn wir die großen Summen, die da bewegt werden, effizienter
einsetzen könnten. Ich mache mal den Vergleich zur Bundeswehr: Die
hat auch ein erhebliches Budget. Aber man Ende muss man sagen, wir sind
nur bedingt verteidigungsfähig. Zu Ihrer Frage: Da ist in der Tat
das Gefühl, dass das System immer weniger wirkmächtig ist.
Wie müsste man das ändern?
Wir müssen in vielen Bereichen über einen grundsätzlichen
Neuanfang nachdenken. Krankenversicherung zum Beispiel. Diese Parallelität
von privater und öffentlicher Krankenversicherung mit vielen verschiedenen
Tarifen und ausgehandelten Fallpauschalen, Überweisungen –
das ist alles nicht effizient. In anderen Ländern gibt es digitale
Patientenakten, es werden nicht Untersuchungen doppelt gemacht, weil irgendwo
das Papier verloren gegangen ist. Gerade im Medizinbereich gibt es sehr
viel Effizienzpotential. Wir haben auch ein Problem bei den Renten und
finanzieren aus laufenden Steuermitteln jetzt schon die Renten in ganz
erheblichem Maße. Vielleicht können wir dieses Problem lösen,
wenn wir geschickt Einwanderung in den Arbeitsmarkt steuern. Aber der
Generationenvertrag funktioniert nicht mehr, weil sich einige Generationen
aus dem Kinderkriegen verabschiedet haben. Da müsste die Politik
sich aber irgendwann trauen und den aktuellen Rentnern auch mal sagen:
Ihr habt euren Teil des Vertrages nicht erfüllt, ihr könnt jetzt
nicht erwarten, dass wir so weitermachen und ihr die gleichen Leistungen
bekommt.
Die durchschnittliche monatliche Altersrente
in Deutschland beträgt nach Abzug der Kranken- und Pflegeversicherung
1080 Euro. Die realen Renten sinken, immer mehr Rentner sind auf Aufstockung
angewiesen. Wie kann man steigender Altersarmut entgegenwirken?
Als Rentnerin oder Rentner hat ein großer Teil meines Bedarfs mit
Gesundheit und Pflege zu tun. Bei der Zahl, die Sie gerade genannt haben,
muss man also fairerweise dazusagen, dass die größten Lebenskrisen
mit Gesundheit und Pflege schon abgedeckt sind. 1080 Euro sind wirklich
nicht viel, da stimme ich Ihnen zu. Aber wenn einem die existenziellen
Risiken abgenommen sind, dann ist das ein schöner Anfang. Ist das
auch ein luxuriöses Leben? Nein, natürlich nicht.
Welche Maßnahmen würden Sie der
Politik empfehlen, um in den nächsten zehn Jahren eine gute wirtschaftliche,
gesellschaftliche und soziale Entwicklung zu gewährleisten?
Wir brauchen eine positive Vision, wie das Land aussehen soll. Dazu brauchen
wir politische Führung. Wir brauchen eine Idee, wie es mit unserer
industriellen Basis in Deutschland weitergehen soll. Wie wir den Klimawandel
und diese Energietransformation gestalten, damit sie nachhaltig im sozial-ökologischen
Sinn ist. Wir benötigen diese Konkretisierung einer Agenda 2030/35,
dass wir ein Ziel haben, auf das wir losmarschieren. Zum Beispiel, dass
wir die grüne Industrienation Nr. 1 in der Welt werden wollen. Wir
brauchen etwas Konkretes, wo wir sagen, wir packen an und laufen alle
in die gleiche Richtung. Da wollen wir hin, und wenn wir da ankommen,
dann sind AfD und andere Schreckgespenster vergessen.
Interview von Peter Brandhorst und Holger Förster; erschienen (u
a.) in: Straßenmagazin Hempels, Februar 2024
Weltwirtschaftsinstitut Kiel
Das "Kiel Institut für Weltwirtschaft" (IfW) ist eines
der großen und bedeutenden Zentren weltwirtschaftlicher Forschung.
Aufgabe ist, weltwirtschaftliche Herausforderungen frühzeitig zu
erkennen und Lösungsansätze zu entwickeln. Das Institut mit
seinen insgesamt über 100 wissenschaftlichen Mitarbeitenden berät
deutsche, europäische und internationale Politik sowie Institutionen,
Verbände und Unternehmen. Als eigenständiges Institut kooperiert
das IfW mit der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und wird
vom Land Schleswig-Holstein und vom Bund finanziert.
Prof. Moritz Schularick
Der 1975 geborene Moritz Schularick ist seit Juni 2023 Präsident
des Kieler Weltwirtschaftsinstituts. Vor seiner Berufung an das IfW war
der Volkswirt Professor für Makroökonomie an der Universität
Bonn. Schularick hat mehrere Auszeichnungen erhalten, unter anderem ist
er Preisträger des Leibniz-Preises 2022, Deutschlands wichtigstem
und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vergebenen Forschungspreis.
In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit ökonomischer
Ungleichheit und den Ursachen von Finanzkrisen.
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