Portrait der Schlagersängerin Kerstin Ott
Botschafterin für Toleranz
Früher war die Schlagersängerin Kerstin Ott spielsüchtig und eine Zeit lang obdachlos. Heute ist sie ein Megastar und spiegelt mit ihrer Musik auch das damals Erlebte

Jeder Text braucht einen Anfang, und so startet dieser in Heide. Dort, in Dithmarschen, hat ja auch ihre Geschichte begonnen, die von Kerstin Ott, einem der Megastars des aktuellen deutschen Pop- und Schlagerbusiness. In einem Hotelrestaurant ist man mit ihr verabredet, draußen kommt der norddeutsche Frühling an diesem Tag recht flüssig vom Himmel. Und drinnen sitzt Ott vor einer Tasse schwarzen Filterkaffee und sagt: "Irgendwann habe ich gemerkt, egal wie schrecklich eine Situation war – es geht auch wieder die Sonne auf."

Kerstin Ott, 41, schwarzer Hoodie, schwarze Jeans, wie immer ungeschminkt, ist an diesem Tag in erster Linie nicht gekommen, um über ihre künstlerischen Erfolge zu sprechen. Sie sitzt da jetzt, um von ihren ganz persönlichen Finsternis- und Sonnenmomenten zu erzählen, von diesen Zeiten aus der Vergangenheit, als sie zunächst ganz tief unten war. Als Spielsucht noch ihren Alltag bestimmte, sie mit Depressionen und Ängsten zu kämpfen hatte und vorübergehend auch obdachlos war. Bevor dann irgendwann in ihrem Leben die Sonne wieder aufging. "Man muss daran glauben und was dafür tun", blickt sie jetzt im Restaurant zurück. Sie hat damals an sich geglaubt und was dafür getan, und dass sie heute so überaus erfolgreich auf den ganz großen Bühnen auftritt, hat ja auch was mit den Erfahrungen dieser früheren Jahre zu tun, was später noch zu erzählen sein wird.

In Berlin geboren, kam Ott als kleines Kind nach einer Erkrankung ihrer Mutter zunächst in ein Heim in Dithmarschen in der Nähe von Heide und wuchs dann in nacheinander zwei Pflegefamilien auf. Wenig Zuneigung und menschliche Wärme begegneten ihr dort, sagt sie, dass ihre Seele nicht deformierte, "hatte den Grund, dass ich schon immer eine optimistisch denkende Person und eher rabaukenmäßig unterwegs war".

Mit Ach und Krach schafft sie den Hauptschulabschluss, lernt Malerin und Lackiererin und stürzt mit 18 in ihre erste große Krise. Nach der Trennung von ihrer ersten Freundin – Ott hatte sich schon früh geoutet – wird sie spielsüchtig; sieben Jahre lang verbringt sie jede freie Stunde in Daddelhallen, die vielen Fragen des Lebens reduzierten sich damals auf eine einzige: Woher bekomme ich das nächste Geld für die Automaten? "Sucht ist eine Krankheit, die nicht zu unterschätzen ist und hat immer eine Ursache", sagt Ott heute. Ihre Sucht sei eine "Flucht weg von den komplizierten Antworten des Lebens gewesen, man will sich nicht damit beschäftigen, was mit einem wirklich los ist." Insgesamt verspielte sie damals den Wert eines Einfamilienhauses.

Mit 21 kommt zu der ersten großen Krise gleich noch eine zweite oben drauf. Ott beginnt eine Ausbildung an der Polizeischule in Eutin, schmeißt aber bald hin, weil sie mit dem Umgangston nicht klarkommt. Weil zeitgleich auch ihre damalige Lebensgefährtin ihren Job verliert, können beide die Miete für die gemeinsame Wohnung nicht mehr bezahlen. Insgesamt drei Monate sind sie in der Folge wohnungslos, können mal bei den Schwiegereltern schlafen, mal bei Freunden; zwei Wochen lang leben sie obdachlos draußen in einem Auto. Es war auch die Zeit, in der bei ihr Depressionen und Ängste aufkamen.

"Damals war ich gesellschaftlich ziemlich weit unten angekommen", sagt Kerstin Ott heute. Dass sie es geschafft hat, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, habe damit zu tun gehabt, "dass ich immer mit anderen Menschen kommuniziert habe. Niemand wird ja vom Wind einfach so irgendwo hin geweht, es gibt immer Ursachen, zum Beispiel in der Vergangenheit erlebte Dinge, die unverarbeitet geblieben sind." Kerstin Ott hat sich damals Unterstützung und Hilfe gesucht, hat sich nie versteckt und ist mit ihren Problemen immer offen umgegangen. "Diese ganzen unbeantworteten Fragen, vielleicht waren das ein paar zu viele für mich", als sie in Sucht und Obdachlosigkeit rutschte.

Ott ist damals durch viele tiefe Täler gegangen, in die nur wenig wärmende Sonne schien, ihr Weg zu dem, was sie heute ist, war ein ordentlicher Kampf den Hügel hinauf. Geholfen hat ihr dabei auch die Musik. Als Kind hatte sie von Nachbarn eine Gitarre geschenkt bekommen. "Ich habe schon früh viel getextet und auf meiner Gitarre gespielt, Musik hat mich immer stark gemacht", sagt sie, bereits in der Schule fiel ihr Gesangstalent auf, sie durfte auch im Kinderchor von Rolf Zuckowski auftreten. "Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass dann dieses Lied irgendwann aus meiner Schublade heraus in die Welt getragen wird."

Dieses Lied heißt "Die immer lacht" und erzählt die wahre Geschichte einer an Depressionen erkrankten Freundin, die sich trotz ihrer Sorgen anderen Menschen lachend zeigt. Mitte der Nullerjahre hatte Ott den Song für ihre Freundin geschrieben, irgendwann schien er vergessen, bevor er 2016 über Umwege auf YouTube entdeckt und zu einem Partysong wurde, zu dem inzwischen wohl in so gut wie allen Discos getanzt wird. Wobei "entdecken" das vielleicht falsche Wort ist. Denn Worte reichen manchmal nicht aus, um Erfolge zu vermessen, man muss dann auch schon mal tiefer in die Zahlen gehen.

Die Zahlen also: Erst eine 2, dann eine 5, schließlich sieben Mal die 0 – Kerstin Otts Superhit "Die immer lacht" wurde auf YouTube bisher 250 Millionen Mal angeschaut, die zweitmeisten Klicks eines deutschsprachigen Lieds jemals. Und gleich noch eine Zahl: 1.600.000 – die Single mit dem Lied ist inzwischen 1,6 Millionen Mal verkauft worden.

Ott ist mittlerweile da angekommen, wo die ganz große Musik spielt. Vier Alben hat sie bisher veröffentlicht und dafür zahlreiche Gold- und Platin-Awards erhalten, in den Fernseh-Schlagershows nicht nur des Samstagabends ist sie Stammgästin. Kürzlich ist zudem ihr "Best Ott"-Doppelalbum erschienen mit 34 alten und neuen Songs. Auch drei weitere Schlagergrößen treten dort mit ihr im Duett auf, Andrea Berg, Howard Carpendale und Helene Fischer, mit der sie das von ihr, Ott, geschriebene Lied "Regenbogenfarben" singt, ein Appell für Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe.

Im Leben hängt alles mit allem zusammen, auch Otts Liedtexte spiegeln immer wieder eigene Lebenserfahrungen, mal mit Texten gegen Rassismus und Homophobie, mal mit dem Werben um Verständnis für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Ott tritt als Künstlerin mit Haltung auf in einer Unterhaltungsbranche, in der sonst immer alles glatt gespült und auf heile Welt gedreht ist. In der Schlager- und Popwelt, in der sie sich als ihre Texte selbst schreibende Singer-Songwriterin bewegt, ist das Publikum in Teilen ja eher konservativ. "Man muss den Mund aufmachen", sagt Kerstin Ott beim Kaffee in Heide, "dann tun andere das irgendwann auch."

Wenn sie also auch über die ihr wichtigen Themen singt und spricht, über Depressionen, Obdachlosigkeit oder Sucht beispielsweise, dann nimmt sie ihnen damit vor großem Publikum das Verschämte, das Stigmatisierende, den Schleier des Pfui und Bäh. Kerstin Ott zeigt mit ihrer eigenen ganz persönlichen Geschichte, dass es jeden treffen kann. Das ist in jedem einzelnen Fall schlimm, aber deshalb ist niemand, den es trifft, auch ein schlechter Mensch, das ist ihre Botschaft. Und sie, die Schlagersängerin und Botschafterin für Toleranz und Menschlichkeit, vermittelt mit ihrem Eintreten jenen, die es im Leben an der einen oder anderen Stelle getroffen hat – den Obdachlosen, Suchtkranken, Depressiven – , dass sie sich etwas weniger allein fühlen dürfen; die Empfindungen und Gefühle, die Ott formuliert, die kennen sie ja schließlich auch.

In Heide ging alles los, da waren damals diese tiefen Täler im Leben von Kerstin Ott. Von Heide aus, wo sie mit ihrer Frau, zwei Kindern, drei Katzen und einem Hund lebt, geht heute alles weiter. Die großen Bühnenauftritte natürlich, aber auch das Eintreten für die Schwachen in dieser Gesellschaft, denen sie mit ihren Texten sagt, ihr gehört alle dazu, ihr seid alle in unserer Mitte erwünscht.

Erschienen (u. a.) in: Straßenmagazin Hempels, Juli 2023