30 Jahre obdachlos auf der Straße

„Neulich war wieder einer dieser besonders schönen Abende“, hat Klaus-Dieter Trommer gerade gesagt. Auf dem Schlafsofa in seiner Lübecker Ein-Zimmer-Wohnung sitzt er schon die ganze Zeit, ohne sich vom Fleck zu rühren; jedes Aufstehen fällt ihm schwer, vor sich auf dem Tisch steht eine Schachtel prall voll mit Medikamenten. Und jetzt, wo er über den Abend neulich spricht, strahlt er plötzlich über das ganze Gesicht. „Da hab ich im Fernsehen wieder eine Sendung gesehen, in der nach verschwundenen Menschen gesucht wird“, sagt er nun. Und nach einer kurzen Pause: „So ähnlich war das bei mir ja auch.“

62 wird Trommer im Sommer, und wenn er über diesen nächsten Geburtstag spricht, wirkt er selbst überrascht. „Eigentlich hätte ich doch schon längst tot sein müssen“, sagt er dann. Einmal, vor ein paar Jahren im Winter, war er es nach einem Herzstillstand für wenige Sekunden auch irgendwie. In Berlin lebte er damals noch, obdachlos und schwerst alkoholabhängig, als er bei Minusgraden von einem Polizisten auf der Straße aufgelesen und gerade noch rechtzeitig reanimiert werden konnte; fünf Wochen lag er anschließend im künstlichen Koma. Ein anderes Mal waren bei ihm nach einem Alkoholexzess 7,4 Promille gemessen worden.

„Ich bin so froh, dass endlich alles vorbei ist“, sagt Klaus-Dieter Trommer auf seinem Schlafsofa.

Trommers Geschichte ist die eines Menschen, der über lange Zeit keine Grenzen kannte beim Umgang mit Alkohol. Und der schließlich mit Hilfe eines Berliner Anwalts und seiner in Lübeck lebenden Tochter, zu der er fast 30 Jahre keinen Kontakt mehr besaß und die in Berlin nach ihm zu suchen begonnen hatte, doch noch den Einstieg in ein neues Leben fand.

Trommer stammt aus Bad Schwartau und wuchs in einem Elternhaus auf, das er als „nicht so richtig gut“ in Erinnerung hat; ein paar Jahre war er auch in einem Erziehungsheim untergebracht. „Mit Zwölf hatte ich die erste Alkoholvergiftung“, erzählt er, „aber während meiner Malerlehre habe ich nicht getrunken, richtig los ging das erst danach.“ Er heiratet schließlich, wird Vater von zwei Kindern und lebt mit seiner Familie in Lübeck.

1985 ist die Ehe geschieden und Trommer zieht es nach Berlin; alle alten Kontakte zu Familie und Freunden bricht er ab. „Ich war ein Hippie“, sagt er heute, „vor allem die Musik hat mir viel bedeutet.“ Damals spielte er auch selbst Gitarre, „ja natürlich“, sagt er, so als zweifele man daran, „vor allem Rock und Blues, die ganze Palette“. Die Gitarre ist ihm über die Jahre abhanden kommen, wann und wie genau weiß er nicht mehr, „aber jetzt in Lübeck habe ich wieder einige CDs, die ich mir oft anhöre.“ In einem Ständer neben dem Schlafsofa stecken Scheiben von Hendrix und Cocker, von den Stones, Tina Turner oder auch Udo Lindenberg.

In Berlin lebt Klaus-Dieter Trommer mal hier, mal dort. Sein Geld verdient er sich viele Jahre mit Jobs bei einer Möbelspedition, eine eigene Wohnung besitzt er nie. Mal schlüpft er zum Schlafen in der Wohnung eines Kumpels unter, mal findet er ein Bett in einer Obdachlosenunterkunft. „Ein paar Jahre habe ich auch bei meiner Verlobten gewohnt, bis wir uns getrennt haben und sie sich totgesoffen hat.“ Trommer pendelt weiter durch die Szene und schläft immer öfter auch draußen.

Das Leben draußen und der starke Alkoholkonsum haben seine Gesundheit nach und nach massiv angegriffen. Leber, Herz und Bauspeicheldrüse zählt er auf, ein großer Teil des Magens fehlt ihm seit einigen Jahren, ein paar Fußzehen auch, weshalb ihm das Gehen schwerfällt; außerdem sind da die wegen eines Karpaltunnelsyndroms tauben Finger. „Das mit der Gitarre ist deshalb auch nicht mehr so schlimm“, fügt er hinzu und schiebt die Medikamentenbox auf dem Tisch etwas zur Seite. Jeden Tag muss er rund zwanzig Tabletten schlucken.

2010 lernt Trommer in Berlin den Rechtsanwalt Ingo Borgwardt kennen, dessen Kanzlei sich als Mittler zu Ämtern und Hilfeeinrichtungen schon länger der Interessen Obdachloser angenommen hatte. „Herr Trommer war damals meist mürrisch und brummig“, so Borgwardt, „aber er war immer auch sehr höflich.“

Trommer fasst langsam Vertrauen zu dem Anwalt und lässt ihn vom Amtsgericht zu seinem Betreuer bestellen. Der Anwalt kümmert sich um ein festes Zimmer in einer Obdachlosenunterkunft, schafft Bilder, Tassen und Blumen an, um den kahlen Raum ein wenig wohnlich zu gestalten. „Trotz der weiterhin ständigen Alkoholexzesse kam so schrittweise etwas Stabilität in sein Leben; er begann auch, sich um seine Körperpflege zu kümmern“, blickt Borgwardt zurück.

Im Herbst 2012 dann der Moment, der das Leben des lange Jahre obdachlosen Klaus-Dieter Trommer endgültig in eine neue Richtung lenkt. Seine in Lübeck lebende Tochter, die er zuletzt knapp 30 Jahre zuvor als Zweijährige gesehen hatte, war in Berliner Obdachlosenunterkünften auf die Suche nach ihm gegangen. „Und dann stand sie ganz plötzlich einfach so vor mir und sagte: 'Guten Tag, ich bin deine Tochter'“, so der Vater im Rückblick. Tränen flossen, „und meine Tochter hat mich aufgeklärt, dass ich nicht mehr lange leben werde, wenn ich so weitermache wie bis dahin.“

Trommer zog bald zurück nach Lübeck, zunächst in eine öffentliche Unterkunft, seit zwei Jahren lebt er von Grundsicherung in seiner kleinen Mietwohnung. Alkohol fasst er seitdem nicht mehr an. „Ich weiß jetzt, dass es anders nicht mehr geht“, sagt er dazu bloß, „es war nicht einfach, aber ich habe es geschafft.“ Gerne hätte man sich auch mit der Tochter darüber unterhalten, welche Bedeutung es für sie hat, dem jahrzehntelang verschollenen Vater auf dem Weg weg vom Alkohol und in eine eigene Wohnung entscheidend geholfen zu haben. Wolle sie gerne tun, sagt sie bei einem ersten Telefonat. Später gibt sie zu verstehen, lieber doch nicht öffentlich über ihre Unterstützung sprechen zu wollen.

In seiner Lübecker Wohnung zeigt Klaus-Dieter Trommer auf ein paar Bilder an den Wänden. Viel Romantik kommt da für ihn zum Ausdruck mit Blumenmotiv oder Sonnenuntergang. Jedes Detail in der Wohnung scheint mit Überlegung gestaltet, keinerlei Unordnung ist zu erkennen. Unterstützung bei der Bewältigung des neuen Alltags kommt regelmäßig von einem Pflegedienst; „die Helfer mögen mich alle“, sagt Trommer und strahlt. Und die Leiterin des Pflegedienstes ruft ein paar Tage später durchs Telefon, auch sie scheint dabei zu strahlen: „Er ist uns einfach ans Herz gewachsen mit seiner tollen Entwicklung!“

Also, Herr Trommer, alles gut im neuen Lübecker Alltag, will man zum Abschied dann doch noch von ihm wissen? Ja, antwortet er, dann schweigt er einen langen Augenblick und erzählt von Angehörigen, zu denen er bislang noch nicht wieder in Kontakt gekommen ist. Dass auch das irgendwann klappen wird, darauf hofft er. Ähnliche Erfolgsgeschichten kennt er ja; Klaus-Dieter Trommer verfolgt sie immer wieder im Fernsehen.

Peter Brandhorst

Erschienen in:
HEMPELS Straßenmagazin, Nr. 240
Publik-Forum Extra; Oktober 2016